N82°21 E17°11′

“Wessen dumme Idee war das bloss”, denke ich, als ich Mitten in der Nacht schlaftrunken versuche, von meinem Bett ins WC zu gelangen. Die überall angebrachten Haltestangen machen auf einmal sehr viel Sinn – ebenso der Hinweis der Crew am Vorabend, alles niet- und nagelfest zu verstauen. Es würde mir ansonsten nun hoffnungslos um den Kopf fliegen. Und es reicht mir schon, dass ich selbst auf dem Rückweg ins Bett fast den Abflug mache…

Drei bis vier Meter Wellen sind es angeblich gewesen, erzählt man uns am nächsten Morgen. Nicht alle sitzen am Frühstückstisch und auch mein Appetit hält sich sehr in Grenzen. Aber man sagt, es sei besser, etwas im Magen zu haben und so kaue ich unmotiviert an einem Stück des mir sonst sehr gut schmeckenden Brotes. Dazu ein paar rohe Ingwerstücke, ein “Geheimtipp” der Küchencrew, der mich die letzten Stunden, zusammen mit Stugeron, über Wasser gehalten haben.

Apropos Wasser: allzuviel sehen wir davon draussen nicht mehr – wir nähern uns nämlich dem Packeis! Seit fast 15 Stunden sind wir nun im offenen Ozean unterwegs, so weit nördlich, wies geht. Wo genau die Packeis-Grenze ist, weiss niemand genau, da sich dies immer ändert – im Herbst aber natürlich tendenziell am weitesten Weg vom “Festland” Spitzbergen. Ich bin immer noch nicht sicher, ob es die ganze Mühe & Strapazen wert ist, war ich doch schon mehr als zufrieden mit allem, was wir in den Fjorden und an der Küste bislang faszinierendes sehen und erleben durften.

Doch die Hoffnung auf eine ganz besondere Begegnung lässt mich dann doch bald einmal das Deck aufsuchen: mit etwas Glück können wir hier oben die Ivory Gull (Elfenbeinmöwe) antreffen. Diese fast mystisch erscheinende, komplett elfenbein-weisse Möwe ist ans Eis gebunden und so selten, dass gewisse Ornithologen nur deswegen hier hoch kommen. Unser Schiff wird immer wieder von Seevögeln begleitet. Meistens sind es Eissturmvögel, Dreizehenmöwen oder auch mal eine Küstenseeschwalbe. Ich schaue ihnen zu, während ich mir gut eingepackt die arktische Sonne ins Gesicht scheinen lasse. Auf einmal bleibt mein Blick an einem besonders eleganten Vogel hängen und bevor ich dazu komme, jemanden zu fragen schreit es hinter mir: “Ivory Gull, Ivory Gull!”

Die schönste aller Möwen

Gleich zwei Exemplare auf einmal!

Ivory Gull an der Packeis-Grenze

Doch der eigentliche Grund, weshalb wir hier oben sind, ist das Eis! Und die mögliche Aussicht, hier eventuell Eisbären zu sehen. Eine beliebte Taktik, um Bären zu finden, ist nämlich folgende: man steuert das Schiff (natürlich ein Eisbrecher) so weit ins Eis, wie es geht, setzt dort Anker und wartet einfach mal ab. Vielleicht über Nacht, vielleicht dauert es nicht mal so lange, denn: Bären sind extrem neugierig und können unseren Geruch (…und den unseres Essens) über Kilometer weit aufnehmen. Sie kommen dann von sich aus zu uns, um uns “auszuchecken”.

Noch ist das Eis nicht geschlossen, aber mit jeder Stunde, die wir nördlicher vordringen, wird es dichter. Der Anblick haut mich jetzt schon von fast von den Socken und ich beginne so langsam Gefallen an dem Plan zu bekommen. Auch wenn es immer noch sehr unangenehm schaukelt. Die Crew nennt es “Swell” – eher sanfte, aber doch immer noch recht hohe Wellen, die uns seitlich treffen und Überreste des Sturmes sind, der uns auch vergangene Nacht beglückte. Das Vorankommen und Fotografieren vom Deck aus ist herausfordernd, ganz zu schweigen auch von den eisigen Temperaturen, aber es ist es allemal Wert!

Einzelner Eisberg in der Morgendämmerung

Gigantische Eisberge

Eisberg im Sonnenaufgang

Dem Licht entgegen

Das Eis wird allmählich dichter

Haifisch Flosse aus Eis

Wir kämpfen uns durch Pfannkuchen aus Eis

Pancake Ice

Gegen Nachmittag erreichen wir das Pancake Ice – diese an Pfannkuchen erinnernden, immer grösser werdenden Eisstücke sind quasi die Vorstufe der geschlossenen Eisdecke. Es ist unglaublich faszinierend, ja zweitweise fast hypnotisch, dieser zusammmenhängenden, wabbernden Oberfläche des Arktischen Ozeans zuzuschauen. Den 82. Breitengrad haben wir bereits passiert – wir sind also nur noch einen Katzensprung vom Nordpol entfernt! Zum Vergleich: Hammerfest – der nördlichste Punkt auf dem Festland Norwegens – liegt auf dem 70. Breitengrad, Longyearbyen – die Hauptstadt Spitzbergens – auf dem 78. und der Nordpol selbst markiert natürlich den 90. Breitengrad. Wir sind hier also soweit nördlich, wie es die wenigsten Menschen wohl jemals sein dürfen. Aber: leider dürfen auch wir nicht mehr weiter! Der Captain, der die Verantwortung für die Sicherheit von Schiff, Crew & Gästen trägt, hat die Reissleine gezogen: der anhaltende Swell sei einfach zu gefährlich, um länger in dieser Extremzone zu verbleiben. Und guess what: nach dem ich anfangs so gelitten habe, finde ich diesen Entscheid nun äusserst schade. Aber natürlich auch vollkommen nachvollziehbar!

Wir machen uns also langsam auf den (langen, aber angeblich nicht mehr ganz so turbulenten) Rückweg, lassen uns dafür aber Zeit, damit wir das schöne Nachmittags- und Abendlicht noch mitnehmen können. Und das spült dann gleich sämtliche Anflüge von Enttäuschung meilenweit weg: was wir die nächsten Stunden hier oben sehen und erleben dürfen, lässt sich kaum in Worte fassen und wird mir mein Leben lang in Erinnerung bleiben. Es ist rückwirkend, neben den vielen schönen Tierbegegnungen (siehe beispielsweise den Blogbeitrag zum Polarfuchs), mein Highlight dieser Reise und etwas vom Schönsten, was ich überhaupt je geniessen durfte. Und ich verstehe nun auch, was viele über Spitzbergen sagen: “You came for the animals, you stay for the ice”.

Das sanfte Nachmittagslicht kündigt bereits ein Abendspektakel an

Formen, an denen man sich kaum satt sehen kann

Nuggets

Zwischen den Nuggets gibt es auch riesige Schollen

Fehlt eigentlich nur noch ein Eisbär auf so einer Scholle 😉

Auch beim Sonnenuntergang kann man immer noch den “Swell” erkennen

Es war einfach nur schön

Was für ein Sonnenuntergang, mitten im Arktischen Ozean!

Das letzte Licht, bevor es wieder “in den Süden” geht

Zum Abschluss hier noch ein kleines Video, dass ich für mein Instagram-Profil erstellt habe. Es lässt die stürmische See ein bisschen erahnen, wobei natürlich erwähnt sei, dass ich während den wirklich hohen Wellen nicht einmal ans filmen denken, geschweige denn aus meinem Bett aufstehen und an Deck laufen hätte können! Nein, ich bin definitiv nicht seetauglich. Aber ich denke, die Impressionen in diesem Blog zeigen, dass es die Strapazen mehr als Wert waren!

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